11. Dezember

 

Das kleine Gefühl findet sich

(Verfasser unbekannt)

 

Es war einmal ein kleines Gefühl. Das war noch ganz neu auf dieser großen Welt und hatte nun die Aufgabe, seinen Weg und seine Bestimmung zu finden. So machte es sich auf und begegnete erst einmal einigen anderen Gefühlen.

 

Da war zunächst die Angst. Sie war sehr unruhig und wandte den Blick hektisch hin und her. “Ich habe keine Zeit für dich, kleines Gefühl,” sagte die Angst, “ich bin auf der Suche nach einem Wesen, bei dem ich mich einnisten und es beherrschen kann.“ Das kleine Gefühl erschrak. Nein, das wollte es nicht. So wollte es nicht sein.

 

Noch ganz damit beschäftigt, die Angst zu vergessen, begegnete ihr der Mut. “Komm mit, kleines Gefühl, ich mache dich groß und stark, dann kannst du alles erreichen, was du willst. Schau mich an, ich bin Wer!“ Das kleine Gefühl wurde unsicher. Mutig sein wäre schon gut, aber doch nicht so aufgeblasen, nein, das war es auch nicht. Vielleicht eine Mischung aus Angst und Mut…

 

Während es noch darüber nachdachte, trat ihm plötzlich die Eifersucht in den Weg. “Hallo, hallo, ich bin die Eifersucht, die Eigenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft!” Bei diesen Worten lief das kleine Gefühl so schnell es konnte fort. Nein, nein, Leiden ist nicht schön, Leiden tut weh. Das kleine Gefühl wollte keine Leiden schaffen.

 

Ganz außer Atem, setzte es sich auf eine Brücke, um auszuruhen. Es schaute in den Fluss und wusste noch nicht, was es einmal sein sollte. Inmitten dieser Gedanken spürte das kleine Gefühl, wie es immer dunkler, kälter und sehr, sehr still um es herum wurde, und es schaute sich um.

 

“Das mache ich, ich bin die Traurigkeit. Wenn du mich nicht aushalten kannst, dann wirf dich in den Fluss da unten.“ Das kleine Gefühl erschrak zutiefst und schaute erst in die Tiefe und dann der Traurigkeit in ihre schwarzen Augen und sagte:“ “Nein, Traurigkeit, ich bin nicht mutig genug, und ich habe genug Angst in mir, um diesen Schritt nicht zu tun.” Mit festen Schritten verließ das kleine Gefühl die Brücke.

 

Schon bald hörte es eine leise, jedoch sehr harte Stimme, die es fragte: “”Wer bist denn du?“ Unsicher antwortete es: “Ich? Ich bin, ich weiß es noch nicht. Und wer bist du?” “Ich bin der Hass. Ich beherrsche die Welt und kann alles vernichten – alles – auch dich, wenn ich will.” “Und, willst du das?” “Wie du mir antwortest, scheinst du recht mutig zu sein.“ “Warum? Weil ich mich nicht so sehr vor dir fürchte und weil ich nicht eifersüchtig auf deine Macht bin? Du Hass, ich muss weiter, um mich zu finden, adieu!”

 

So zog das kleine Gefühl weiter und traf auf seinem Weg durch das Leben noch viele andere Gefühle. Es begegnete unter anderem der Gier, der Lust, dem Neid, der Begierde, dem Mitleid, der großen Panik und der Euphorie. Das kleine Gefühl fand jedes der Gefühle interessant, jedoch keines vom allen wollte es selber sein.

 

Eines Tages dann, das Gefühl war schon sehr müde von der langen Reise, beobachtete es zwei Wesen, die eng umschlungen inmitten einer großen Düne lagen, zärtlich zueinander waren und intensive Gespräche über Gefühle führten. Gerade sagte der junge Mann: “Nein, mein Schatz, ich kann es dir nicht beschreiben. Dafür gibt es keine Worte. Es ist einfach da und wächst jeden Tag, mit jedem deiner Worte, mit jeder deiner Berührungen. Es ist unglaublich schön. Es macht Angst und nimmt sie gleichzeitig. Es gibt Vertrauen. Ich bin gleichzeitig stolz und eifersüchtig, traurig und glücklich, fühle mich riesengroß und schneckenklein – alles gleichzeitig. Ich habe Schmetterlinge im Bauch, es ist so wunderschön – nur, es ist nicht wirklich umfassend genug zu beschreiben.

 

Das kleine Gefühl machte einen Luftsprung, ja, das war es – LIEBE! „Ich bin die Liebe!!! Ich bin nicht greifbar, nicht wirklich sichtbar, jedoch spürbar, erfüllend. Ich bin da und mache Wesen glücklich. So wie die beiden dort. Ich bin die Liebe!”

 

Je mehr Menschen sich die kleine Liebe näherte, umso mehr wuchs sie und wurde groß und stark und mächtig. In ihr fanden sich Anteile vieler Gefühle wieder, die ihr auf ihrer Erfahrungsreise begegnet waren. Dafür war sie sehr dankbar, denn gerade die Vielfalt machte sie einzigartig.